CHRISTINA

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Wir sind wieder auf der Strasse. Wir streifen durch die Stadt, absichtlich ziellos und nach der Abreise Xilongs unendlich verlassen. An einem Abend verfolgen wir eine junge Frau. Sie ist sehr hübsch auch wenn das nie ein Kriterium für unsere Auswahl war. Ich laufe ihr hinterher. Sie geht in eine Markthalle einkaufen. Grünes Gurkengemüse und Reis. Wir schaffen es ihr zu ihrer Wohnung zu folgen. So geht das ein paar Tage. Sie fängt an uns zu bemerken. Von Anfang an fürchtet sie sich nicht, sondern geniesst unsere Anwesenheit. An einem Abend winkt sie uns in ihre Wohnung. Sie kocht und bietet uns wortlos zu Essen. Sie setzt sich vor den Fernseher und isst. Ich setze mich neben sie vor den Fernseher und sehe ihr zu, wie sie isst. Sie schaut zurück und lächelt. Auf ihre etwas kühle, zurückhaltende Art. Irgendwann stehe ich auf und wir gehen.
Wir verbringen so ein paar Tage mit Christina. Sie beachtet uns nicht weiter, aber scheint die Aufmerksamkeit, die wir ihr entgegenbringen zu geniessen und sich ihre eigenen Gedanken dazu zu machen. Da wir nicht reden erfahren wir nur von ihr was wir sehen. Wir schauen ihr zu, wie sie ihr Leben lebt. Wenn sie nicht fernsieht arbeitet sie an ihrem Leben. Sie lernt Französisch wann immer sie kann. Sie hetzt nach der Arbeit durch überfüllte Metrogänge zu Französischkursen, wischt sich im Unterricht den Schweiss von der Stirn. Tags arbeitet sie für eine französische Wetter Firma in einer kleinen Computerzelle. Wir dürfen aber nur bis zur Tür, sie gibt uns ein Zeichen zu gehen. Sie trifft wenig Freunde. Sie isst vor dem Fernseher. Sie zupft sich die Augenbrauen.
Am 5. Tag sagt sie unvermittelt: I think I can consider you as myself. My own conscious. Just me as an outsider observing myself.
Es beginnt etwas, das die ganze Zeit über in dem Vorhaben schlief. Das dösende Herz des Ganzen. Ich habe, wie wahrscheinlich jeder Regisseur, in den Geschichten meiner zufälligen Protagonisten auch Spiegel für meine eigenen Fragen gesucht. Ich wollte wissen, wie andere Menschen dieses Leben meistern. Menschen zu denen ich keinen Zugang habe. Ich habe diesen Zugang über ein Nachvollziehen am eigenen Leib gesucht, nicht in der Rolle der Regisseurin, die hinter der Kamera Fragen stellt. Ich bin vor die Kamera gegangen und durch mein Schweigen quasi zur Figur geworden. Mit dieser Figur konnten die Menschen interagieren, auf sie konnten wiederum sie projizieren. Als Spiegelsuchende Regisseurin wurde ich als „the visitor“ selbst zum Spiegel.Christina ahnt instinktiv das Potential des Ganzen und fängt, zunächst unbewusst an damit „zu spielen“. Die Meisten denken, eine Kamera erzeuge Scham, es sei schwierig, die Leute dazu zu bringen sich vor ihr zu öffnen. Das Gegenteil ist der Fall: im Grunde gibt es bei vielen Menschen eine tiefe Sehnsucht, sich der anonymen Öffentlichkeit in seinem intimsten Sein zu zeigen.
Eines Abends kniet sie sich betend vors Bett und weint lange. Wir sehen ihr dabei zu. Ich frage mich, was wir da tun. Ich will sie in Ruhe lassen und gehen. Aber Christina gibt mir kein Zeichen zu verschwinden, sie möchte dass wir, dass ich auch diesen Moment mit ihr teile. Stück für Stück scheint sich Christina, ihre Blicke offenbaren es, in die Figur die ich bin, zu verlieben. Nicht in mich. Sondern in eine Figur, von der sie annimmt, sie sei ihr beobachtendes Selbst. Ab diesem Moment sind wir beide nicht mehr sicher. Denn, da sich mit der Besucherin keine echte Liebesgeschichte entwickeln kann , dafür ist sie zu sehr reiner Spiegel und Beobachterin, gewöhnt sich Christina stattdessen sehr schnell an das neue geliebte Auge,betrachtet es als selbstverständlich, es löst keine Gefühle mehr in ihr aus. Die Besucherin wird ihr Hund. Immer an der Seite, immer mit der ganzen Aufmerksamkeit bei ihr, die sich nicht mehr um ihn schert, genauso wenig wie um die Kamera. Sie will uns nicht loshaben, sie hat sich schlicht daran gewöhnte beachtet und beobachtet zu werden. Eine Weile leben wir so, gefangen in unseren jeweiligen Rollen als Beobachtende und Beobachtete vor uns hin. Es ist ziemlich unerträglich. Christina arbeitet viel, es wird kälter, wir sitzen stundenlang im Bett vor dem Fernseher. Ich werde tatsächlich mehr und mehr wie sie, wir sehen beide immer schlechter aus, unsere Haut quillt, unter unsere Augen fressen sich Schatten, die Poren sind gerötet und eitrig. Die Kamera beobachtet zunehmend gelangweilt. Sie beobachtet den Stillstand, den Tod, den unerträglichen Alltag eines einsamen Menschen. The visitor ist wie eine Droge, die die Zustände der Personen die sich mit ihm einlassen verstärkt. Kein Therapeut. Der persönliche Begleitengel und -Ekel. Er ist die Pille der Aufmerksamkeit der die Einsamkeit nimmt und potenziert. Ich wusste das alles nicht als ich diese Figur wurde. In einer Nacht im Bett vor dem wie immer stummen Einschlafen macht sie plötzlich den Mund wieder auf, öffnet ihn wie ein eingerostetes Ding, man hört förmlich das Quietschen, widmet der Besucherin wie es scheint nach Wochen Aufmerksamkeit, sagt, dass sie gewohnt sei allein zu sein. Sie lässt offen ob sie das gut findet oder nicht. Sie lässt offen, ob das ein Rausschmiss ist oder nicht. Die Besucherin bleibt. Sie ist auch Sklavin ihres eigenen Projekts, kann nicht einfach aus dem Entsponnenen austeigen bevor es sich zu Ende geschrieben hat. Das scheint auch Christinas Motivation zu sein weiterzumachen: Eine Neugierde auf die eigenartige Dramaturgie unsere Begegnung. Wir haben Stifte aus der Hand gelegt. Wir lassen geschehen.
An einem Abend irgendwann, kurz vor unserer Abreise lässt Christina die Besucherin plötzlich vorgehen. Sie richtet ihren Blick aufmerksam auf mich. Sie will die Rollen tauschen. Ich gehe vor, ich gehe einkaufen, ich kaufe was Christina kauft. Ich werde wie Christina verfolgt von der eigentlichen Christina, beide verfolgt von der Kamera.
Etwas geschieht dabei, ich weiss nicht was, es ist keine Revanche, keine Offenbahrung, keine banale psychologische Katharsis im Sinne von: schau mal wie du bist, so fühlt sich das an. Aber irgendwas bewegt sich in uns beiden, eine Erschöpfung, eine Traurigkeit, eine plötzliche unfassbar grosse Nähe und wir sitzen vor dem Fernseher, erschlagen und essen und Christina weint. Now I wish we had done this earlier, sagt sie und meint den Rollentausch, then I could have been more open to you. But now you are leaving. It is a strange feeling. Dann gibt sie mir ein Audiotagebuch, das sie während der ganzen Zeit geführt hat.
Christina Audio diary:
I feel like I really want to talk to you. That is why right now I am doing the audio diary.
I should say the whole thing is very interesting, it is kind of… it is so exotic. And I feel I am very lucky that you chose me for whatever raison. And first of all I would like to thank you for choosing me. At the beginning I thought it is kind of something cultural comp arising. Anyhow that was still very interesting but not as interesting at it turned out to be now.
The first night was very interesting because I didn’t quite understand what you wanted from it, so I didn’t know what I should do. Anyhow, so the first night I was just trying to figure out what’s going on. Only knew that you were following me. You were observing. I think the first night you were really just standing by and watching me, observing me. And afterwards the next days morning, I keep thinking what is all this about and the next days morning I just kind of realized that I could consider you as myself, my own consciousness, just me standing by, just me as an outsider observing myself. Seeing myself. And I think I was just thinking: how would I look at myself. Would I like myself or would I dislike myself? Afterwards I realised that you were following me and doing just what I was doing- and just imitating me. And still at that time I thought that you tried to understand me by doing what I was doing. …
(Pause)
The interesting thing happened just the 4th time we met. I believe that was the 4th time. In the morning before I went to work, you hand over the i-pod to me. I was surprised, because we met only three times and you had noticed my habit, I never leave my apartment without my i-pod. Sometimes I forgot my keys, I forgot a few times, but I seldom forget my i-pod. Anyhow. That moment I felt, wow this person, we barely talked and we met only three times in total I don’t know how many hours but you were so observant that you found out I was going to get the i-pod. That day I couldn’t help smiling. I think it is a very good thing that somebody understands you even in just some small things. And we walked hand in hand. I think that was the first time I did that, I don’t know, just.. I mean I seldom walk hand in hand with a girl…but at that moment I also had the strange thought, would it be possible that I fall in love with you? Or just when the whole process develops, I would dislike you, want you to leave my life or would I want you just to stay in my life forever…But I think when this continues….
(Pause)
On Saturday, when we were at the friends place, you took my ring… That made me feel something different. Because from what you were doing, like you did everything I did and then you took my ring, put it on your own finger, I just felt you were trying to steal me, steal me away.
(Pause)
It its interesting I started to wonder how you would feel in the whole process.
I think I really wanted to know how you felt when you tried to be the other person. I wonder if you would feel lost, when you tried so hard to be another person. Did you feel lost when you tried to be me? I think when you tried very hard to be me you have to empty yourself. You have to try very hard to get rid of yourself. How does it make you feel? And I think you are trying to be different people in different cities, different cultures, I think you will think about your self- existence as well. So in the end: what are your thoughts, what are your observations? And now I felt like I want to do the things you have done, observing you. And I want to see how you felt when you tried to be me.